Flucht, Angriff oder „totstellen“ – weshalb unser Gehirn viele Change-Projekte blockiert
30. August 2022
Mit Restrukturierungen passen sich Unternehmen an veränderte Märkte an. Fortschritt durch Wandel. Doch die Kehrseite der Medaille ist: Während der Umorganisation geht häufig die Produktivität zurück. Mitarbeiter:innen melden sich krank und Spitzenkräfte kündigen. Fachleute haben für diese „Nebenwirkungen“ der Changeprojekte eine überraschende Erklärung:
Das menschliche Gehirn kommt mit solch tiefgreifenden Veränderungen nicht zurecht. Es schaltet automatisch in den „Alarmzustand“. Die Mitarbeiter:innen reagieren instinktiv: Flucht, Angriff oder „sich totstellen“. Tina Hiller erklärt, wie Unternehmen diese unvermeidlichen Instinktreaktionen in den Griff bekommen.
Kurz vor dem Sommerfest kam die knappe Nachricht vom Vorstand: Die Personalabteilung eines Großunternehmens wird „umgebaut“. Was die über 250 Mitarbeiter:innen erwartet, wie die Aufgaben, Zuständigkeiten, Abläufe und Verantwortlichkeiten zugeschnitten werden – darüber kein Wort. Nur die Ankündigung, dass da ein Veränderungsprojekt kommt. „Wir haben über ein halbes Jahr auf nähere Informationen gewartet“, berichtet eine Mitarbeiterin. Ein Nervenkrieg. Anfangs versuchten Mitarbeiter:innen ihre Projekte zu retten. Dann blieb aktenweise Arbeit liegen; allein das Notwendige wurde erledigt. „Einige Kollegen waren wochenlang krank, Spitzenkräfte kündigten zornig“, sagt die Mitarbeiterin, „und viele andere trauten sich nicht einmal an Routineaufgaben heran, nur um keinen Fehler zu machen.“ Am Ende dauerte es eineinhalb Jahre, bis es in dieser Abteilung „rund lief“.
Mit Restrukturierungen passen sich Unternehmen der wechselnden Großwetterlage ihrer Märkte an. Veränderungsprojekte – sogenannte „Changeprojekte“ – sollen die Organisation schnell umbauen und profitabler machen. Häufig eine Rosskur mit erheblichen Nebenwirkungen. Während des organisatorischen Umbaus herrscht Stillstand. Die Produktivität lässt nach; manche Abteilungen finden erst nach ein oder zwei Jahren zu ihrer normalen Leistung zurück. Das Problem: Die Mitarbeiter:innen nehmen den abrupten Umbruch als existenzbedrohend wahr. Er aktiviert über Wochen ein Stressprogramm, das zu Angst, Lethargie und Aggression führt.
„Stressverhalten ist im menschlichen Gehirn festgeschrieben“, erklärt Tina Hiller, Expertin für Change Management bei der Unternehmensberatung „next level consulting“. Sich bedroht fühlende Menschen reagieren mit einem von drei körperlich festgelegten Stress-Instinkten: Sie schalten auf Angriffsmodus, sie flüchten oder sie verharren still („sich totstellen“). Völlig normales Verhalten – aber reines Gift für die Produktivität, die Mitarbeitergesundheit, das soziale Klima, die Arbeitsqualität und die Loyalität der Mitarbeiter:innen. „Mit diesen Instinktreaktionen gehen wir deshalb klug um“, berichtet Tina Hiller aus ihrer Beratungspraxis, „wir versuchen, dem Gehirn die Last der Angst zu nehmen und Mitarbeiter:innen zu unterstützen, ihren Stress zu bewältigen.“ Sie beschreibt die fünf Eckpfeiler, mit denen ihre Changeprojekte gelingen.
Mit fünf Strategien Unternehmen erfolgreich restrukturieren:
1) Die Zahl der Changeprojekte reduzieren
Manche Unternehmen gleichen einer Dauerbaustelle. Ist die eine Restrukturierung abgeschlossen, folgt die nächste. Manche Mitarbeiter:innen ziehen längst nicht mehr mit. Sie arbeiten wie gewohnt weiter; das nächste Changeprojekt steht ja ohnehin schon vor der Türe. Fachleute sprechen von „Veränderungsmüdigkeit“. Tina Hiller empfiehlt ein Drei-Punkte-Programm: Reduzieren Sie die Zahl der Changeprojekte. Arbeiten Sie die verbliebenen Vorhaben strategisch nach Priorität ab. Erklären Sie Ihrer Organisation die hinter den Programmen stehende Strategie - und zeigen Sie, wohin die Reise gehen soll.
2) Transparenz schaffen
Neben der Gesamtstrategie wollen sich Mitarbeiter:innen auch über die konkret anstehenden Changeprojekte orientieren. Unternehmen sollten deshalb über die Veränderungen früh und möglichst vollständig informieren. „Ein solches Zielbild der Maßnahmen bietet den Mitarbeiter:innen während des Umbaus wichtige Stützpfeiler“, erklärt Tina Hiller und warnt davor, dieses Bild weder zu allgemein noch zu detailliert zu formulieren. Beschreibt die Geschäftsführung ihr Ziel einerseits zu diffus, so fehlt Mitarbeiter:innen der Rahmen und der Halt. Sind die Veränderungen andererseits zu „kleinteilig“ vordefiniert, dann schränkt dies den Gestaltungsspielraum der Mitarbeiter:innen ein; die Mitarbeiter:innen fühlen sich von der Gestaltung des Wandels ausgeschlossen. „In diesem Punkt sollten Geschäftsführung und Change-Projektleiter auf eine gute Balance achten“, sagt die Expertin.
3) Mit der Angst „arbeiten“
Fachleute unterscheiden bei Restrukturierung zwischen Projektmanagement und Changemanagement. Das Projektmanagement entwickelt die Veränderungen und setzt diese um. Dazu gehören beispielsweise ein neues Gerüst für Arbeitsabläufe oder ein neuer Strukturplan für die Organisation. Anders das Changemanagement. Es begleitet die Mitarbeiter:innen bei dem Wandel: Mit welchen Maßnahmen kann das Unternehmen den Instinktreaktionen der Mitarbeiter:innen begegnen? Wie kann es vorbeugen gegen Produktionsverlust, Personalfluktuation oder aggressiven Widerstand? Manche Fachleute trennen bewusst das Projektmanagement vom Changemanagement und treiben beides als jeweils eigenes Projekt voran. Soweit muss niemand gehen. Wichtig aber ist: Das Unternehmen sollte sich darüber im Klaren sein, dass gelingende Umorganisationen auf zwei Pfeilern ruhen – auf der fachgerechten Projektumsetzung und auf Hilfsangebote für Mitarbeiter:innen, die Veränderungen für sich zu „managen“.
4) Mitarbeiter:innen auf die Umstellungen vorbereiten
Expert:innen verfolgen eine zweigleisige Strategie. Viele Risiken können durch geeignete Maßnahmen "entschärft" werden. Andere Risiken werden während der gesamten Projektdauer bestehen bleiben. Sie können sich auf solche Risiken vorbereiten, indem Sie für den Fall, dass die Gefahr tatsächlich eintritt, Notfallpläne erstellen.
5) „Reflexionsräume“ geben
Das Training neuer Arbeitsroutinen allein reicht nicht aus, um Mitarbeiter:innen erfolgreich an den Wandel heranzuführen. „Wir flankieren Changeprojekte durch zusätzliche Angebote“, erklärt Tina Hiller, „Mitarbeiter:innen finden Gelegenheit, den Wandel persönlich zu bewältigen.“ Ein Beispiel: Unternehmen bieten ihren Mitarbeiter:innen Gelegenheit zur persönlichen Reflexion. Die Mitarbeiter:innen sprechen über ihre Situation und finden Antworten auf Fragen, die ihnen auf dem Herzen liegen: Was bedeutet die Versetzung an einen anderen Standort? Wie kann man mit Versagensängsten umgehen und wie mit dem Unbehagen darüber, den gewohnten Kollegenkreis zu verlassen? Wichtig ist, dass die Gesprächsrunden professionell moderiert werden. Die Angst der Mitarbeiter:innen darf das Gespräch nicht blockieren; der Tenor sollte immer an Lösungen orientiert und in die Zukunft gerichtet sein. „Solche Gespräche können zu zweit bei einem Coaching, in kleinen Teams oder auch in Großgruppen geführt werden“, erklärt Tina Hiller, „durch solche Reflexionsräume kann man Mitarbeiter:innen gut aus dem mentalen Alarmzustand herausholen und damit das gefährliche Stressverhalten unterbrechen.“